Präsenz oder die Kunst, im Hier & Jetzt zu sein
Sind Sie präsent? Hand aufs Herz: Wo waren Sie gerade mit Ihrer Aufmerksamkeit? Bei den viel zu grellen Socken Ihres Kollegen, dem aufdringlichen Parfum der Nachbarin, der Einkaufsliste für das morgige Abendessen oder beim Teamgespräch von gestern?
Den Augenblick aushalten zu können, scheint schwer
Gedanklich schweifen wir gerne ab und befassen uns damit, was wir tun könnten, um uns selbst, unseren Gesprächs- und Lebenssituationen zu entkommen. Für manche ist ein Urlaub in der Karibik eine willkommene Fluchtmöglichkeit, für andere ist es die Reise ins Weltall oder das Wegbeamen mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille. Das Gras ist eben immer grüner auf der anderen Seite. Was hat es mit dieser Sehnsucht, dem Jetzt zu entkommen, auf sich? Den Augenblick aushalten zu können, scheint schwer. Flucht oder zwanghafte Beschäftigung fallen offenkundig leichter als sich unangenehmen oder gar schmerzhaften Gefühlen auszusetzen.
Kinder zeigen uns auf wundervolle Weise, was es bedeutet, präsent zu sein. Bei ihnen glänzt das Bewerten mit „gut“ und „schlecht“, die Splittung von „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, durch Abwesenheit. Kinder verlieren sich im Spiel, tauchen in ihre Welten ab, sind mit sich und dem Leben verbunden. Ihre Entdeckungsfreude, Neugier und Begeisterungsfähigkeit lässt sie mit anderen in Kontakt kommen, ohne dass sie sich dabei verlieren. Ihre Anziehungskraft zieht uns in den Bann. Wer könnte einem Kind widerstehen? Doch dann greifen die Erwachsenen in die kindliche Welt ein und meinen, den Nachwuchs zu Effizienz und Leistung, zu Wettkampf und Konkurrenz erziehen zu müssen. Die Kinder lernen zu vergleichen und verlieren dadurch ihr Selbstbewusstsein. Das Resultat: eine zunehmende Abspaltung vom Selbst und der Wunsch nach Betäubung.
Wer außer sich ist, verlässt sein Körperhaus
In der Schule wird der Leistungsdruck potenziert und die natürliche Entfaltung durch den kreativen Ausdruck
im Spiel unterbrochen. Im Laufe der weiteren Entwicklung verlassen wir dann immer öfter in Situationen unser Körperhaus und sind im wahrsten Sinne „außer uns“ und „ent-fremdet“.
Fremdgesteuert durch Gewohnheiten, Gedanken-, Atem-, Sprech- und Hörgewohnheiten haben wir mit der Zeit verlernt, instinktiv zu reagieren und frei zu atmen. Mit anderen Worten: das Leben zuzulassen und uns auf verschiedene Situationen einzulassen. Stattdessen wurden wir konditioniert, uns gedanklich und emotional
im Land der Vergangenheit aufzuhalten oder in den Kosmos der Zukunft zu fliegen, während die Insel der Gegenwart im Meer der Zeit versunken zu sein scheint. Wir lassen uns magnetisch vom willkürlichen Aktionismus einfangen und strampeln dabei wild um uns herum als Macherinnen und Macher mit prall gefüllten Terminkalendern. Hauptsache, wir sind abgelenkt!
Loriots wunderbar erschaffener Ehemann, der – im Ohrensessel ausruhend – seiner Frau auf die Frage, was er denn nun machen wolle, wortkarg antwortet: „Einfach nur sitzen“, wurde zum gesellschaftlichen Außenseiter degradiert. Das „Sein“ ist verpönt. Machen ist angesagt und das „Einfach-nur-sitzen“ ein schwer auszuhaltender Zustand. Denn im angeblichen Nichtstun, im „Hier-Sein“, besteht die Gefahr, nervigen Gedanken Raum zu geben, schmerzhafte Gefühle zu empfinden, Erinnerungen anheim zu fallen, mit sich selbst konfrontiert zu werden.
Fehlende Präsenz hat weitreichende Folgen
Doch wenn wir innerlich fliehen und gedanklich abgelenkt sind, mit wem spricht dann unser Gegenüber und wem wohnen wir eigentlich bei? Was macht fehlende Präsenz mit der Kommunikation in der Arbeitswelt, der Gesellschaft, einer Kultur? Wie wollen wir anderen begegnen, mündlich kommunizieren, geschweige denn andere von unseren Ideen begeistern, wenn wir „außer uns“ sind?
Wir bestimmen selbst, ob wir unser Körperhaus bewohnen und präsent sind. Um die Tür zu diesem Haus öffnen zu können, brauchen wir einen Schlüssel: unseren Atem. Der Atem ist der Schlüssel für Präsenz. Wenn unser Atem fließt und uns im vollen Umfang zur Verfügung steht, kommt „Leben in die Bude“. Dann sind wir körperlich präsent, unsere Stimme und Sprechweise wird lebendig, wir sind mit uns selbst verbunden und gleichzeitig offen für unser Gegenüber. Das ermöglicht einen wahrhaftigen Dialog. Dann sind Sie angekommen:
im Hier und Jetzt. Willkommen!